Der Leitwolf Effekt
- Olav Bouman

- 1. Okt.
- 3 Min. Lesezeit

1. Der Beginn einer unsichtbaren Ordnung
Stell dir vor: Ein neues Projektteam wird zusammengestellt. Zehn Leute, bunt gemischt. Am ersten Tag sitzen alle
noch etwas verlegen im Konferenzraum. Man hört die üblichen Vorstellungen: „Ich bin Lisa, Marketing.“ „Thomas, Technik.“ „Sarah, Organisation.“ Keiner weiß genau, wie es laufen wird. Doch nach zwei, drei Meetings verändert sich etwas. Plötzlich ist Thomas der, zu dem alle schauen, wenn es schwierig wird. Lisa bringt Vorschläge, aber sie formuliert sie vorsichtiger, wenn Thomas im Raum ist. Sarah organisiert, ohne dass es
jemand offiziell beschlossen hat. Die Rollen sind verteilt – ohne Wahl, ohne Vertrag, ohne Plan. Willkommen im Leitwolf-Effekt.
2. Warum unser Gehirn Hierarchien liebt
Neurowissenschaftlich betrachtet sind Hierarchien kein Zufall, sondern tief in uns eingebrannt:
Evolutionäre Überlebensstrategie: Unsere Vorfahren lebten in kleinen Gruppen. Ohne klare Rollen hätten sie in Krisen viel Zeit mit Streit verschwende und vielleicht nicht überlebt.
Das soziale Navigationssystem im Gehirn: Der Hippocampus, sonst bekannt für räumliche Orientierung, speichert auch soziale Landkarten. Er berechnet unbewusst, wer wie viel Einfluss hat, wem man folgen sollte und wem man lieber aus dem Weg geht.
Neurochemie des Status:
• Serotonin steigt, wenn wir uns einflussreich fühlen – es beruhigt und macht durchsetzungsstark.
• Dopamin belohnt uns für Statusgewinne – es wirkt wie ein sozialer Antriebsmotor.
• Cortisol steigt, wenn wir uns unterlegen fühlen – Dauerstress, der Denken und Kreativität bremst.
Diese Mechanismen arbeiten automatisch. In jeder Gruppe werden in den ersten Stunden und Tagen Statussignale
gesendet, gelesen und verarbeitet, lange bevor jemand eine „offizielle“ Rolle hat.
3. Vorteile klarer Strukturen
1. Schnelle Entscheidungen – weniger endlose Diskussionen.
2. Orientierung – jeder weiß, wer das letzte Wort hat.
3. Stabilität – Konflikte können schneller beigelegt werden
4. Die Schattenseiten
Doch der Leitwolf-Effekt hat auch eine dunkle Seite:
Machtmissbrauch, wenn der „Leitwolf“ seine Position für persönliche Ziele nutzt.
Stillstand – neue Ideen kommen nicht nach oben, weil die Rangordnung Innovation
bremst.
Statusstress – Dauerunterordnung kann Angst, Rückzug und sogar gesundheitliche Probleme auslösen. In der
Oft übernimmt der Stärkste in Unternehmen oder Organisationen die Führung. Das kann bedeuten, dass nicht der Fähigste, sondern der Lauteste führt.
5. Wie man es besser machen kann
1. Adaptive Leadership – Führungsrollen wechseln je nach Situation und Expertise.
2. Geteilte Verantwortung – kein starres „Alpha“, sondern situativ mehrere
Entscheidungsträger.
3. Feedbackkultur – Macht wird durch Transparenz kontrolliert.
4. Neudefinition von Status – nicht Dominanz, sondern Fürsorge, Kooperation und Kompetenz als Statuskriterien.
6. Story zum Schluss – Wenn der Leitwolf teilt
Ein paar Jahre ist es her, dass ich bei einem großen NGO-Projekt war, das fast scheiterte. Der Projektleiter, nennen wir ihn Martin, war das, was man einen klassischen Leitwolf nennt: stark, durchsetzungsfähig, schnell im Urteil.
Am Anfang half das enorm. Entscheidungen wurden rasch getroffen, alle hatten das Gefühl: Hier ist jemand am Steuer. Doch dann kam der Moment, der alles veränderte. Ein unerwartetes Problem tauchte auf. Eine
politische Krise, die das Projekt in der Zielregion blockierte. Martin reagierte reflexartig: Er traf Entscheidungen allein, sprach mit den Partnern ohne das Team einzubeziehen, hielt Informationen zurück, „um uns nicht zubeunruhigen“. Das Ergebnis: Das Team verlor das Vertrauen, die Motivation sank. Einige hielten sich mit Ideen zurück, andere begannen, im Hintergrund eigene Pläne zu schmieden. Der Leitwolf stand plötzlich allein auf weiter Flur.
Eines Tages nahm sich eine Kollegin – nennen wir sie Aylin – ein Herz. Sie bat Martin um ein Vieraugengespräch und sagte: „Du führst uns wie ein Rudel Wölfe. Das hat uns weit gebracht. Aber jetzt brauchen wir keinen Jäger, wir brauchen einen Kreis.“ Martin schwieg lange. Dann tat er etwas Ungewöhnliches. Er rief das ganze Team zusammen. Er legte die Karten auf den Tisch, erklärte die Lage und fragte: „Wer hat Ideen? Wer will Verantwortung für einen Teil übernehmen?“ Es wurde still. Dann meldete sich Sarah aus der Kommunikation: „Ich kann den Kontakt zur Presse übernehmen.“ Ein anderer Kollege bot an, lokale NGOs zu koordinieren. Innerhalb einer Stunde hatte das Team fünf Verantwortungsbereiche neu verteilt. Martin blieb der Koordinator – aber nicht mehr der alleinige Entscheider. Das Ergebnis? Die Stimmung änderte sich sofort. Ideen
flossen, Verantwortungsbewusstsein stieg. Die Krise war nach wenigen Wochen gelöst. Martin sagte später: „Ich dachte immer, der Leitwolf muss nach vorne gehen. Aber manchmal führt er am besten, wenn man in der Mitte steht.“
Fazit
Hierarchien entstehen automatisch weil unser Gehirn darauf programmiert ist. Aber wie wir diese Strukturen gestalten, entscheidet, ob sie uns stark machen oder blockieren. Der wahre „Leitwolf“ ist nicht der, der immer vorne läuft, sondern der, der dafür sorgt, dass das ganze Rudel schneller, stärker und sicherer ans Ziel kommt.



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