top of page

Ein Tag in Paris veränderte mein Leben für immer - ME/CFS – Wenn der Körper nicht mehr kann

  • Autorenbild: Olav Bouman
    Olav Bouman
  • 28. Juni
  • 5 Min. Lesezeit

Eine umfassende Betrachtung aus medizinischer, gesellschaftlicher und neurowissenschaftlicher Perspektive


Ein persönlicher Einstieg ins Thema


Im Sommer 2012 nahm ich frühmorgens den ICE von Mannheim nach Paris, um meinen langjährigen Geschäftsfreund François zu treffen. Meine Frau begleitete mich und nutzte den Tag für Besorgungen, während François und ich in einem Tagesbüro nahe Les Halles arbeiteten.


Nach dem Termin aßen wir im traditionsreichen Restaurant „Le Procope“, in dem schon Voltaire zu Gast war. Ein runder Tag.


Am Abend, zurück im Hotel, spürte ich plötzlich heftige Schmerzen im rechten Knie. Ein Moment, der mein Leben für immer veränderte – denn seitdem bin ich keinen Tag mehr schmerzfrei gewesen.


Es folgten Jahre voller Diagnosen, Therapien, Operationen und Rehas. Doch statt Besserung kamen nur noch neue Symptome hinzu: Taubheit, Tremor, chronische Erschöpfung, Sturzanfälle, Ganzkörperschmerzen.


Zwölf Jahre später lebe ich nun mit massiven Einschränkungen, seit vielen Jahren im Rollstuhl. Zahlreiche ärztliche Vermutungen – von Arthritis bis Fibromyalgie – halfen wenig.


Erst durch eigene Recherchen stieß ich auf ME/CFS, und vieles ergab plötzlich Sinn. Ich erinnerte mich an eine alte Epstein-Barr-Infektion (EBV) – einen möglichen Auslöser.


Eine offizielle Diagnose fehlt bis heute, wie bei so vielen Leidensgenossen. Doch alle Symptome sprechen eine klare Sprache. Und deshalb widme ich diesen Beitrag einer Erkrankung, die neurologisch, gesellschaftlich und persönlich tiefgreifende Spuren hinterlässt und bis heute von vielen nicht ernst genommen wird.


Vielleicht erkennt sich jemand in meinen Zeilen wieder. Vielleicht hilft dieser Beitrag weiter – als Information, als Ermutigung, oder einfach nur als Zeichen: Du bist nicht allein.


Wenn selbst Ruhe keine Erholung bringt


Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf – und fühlen sich erschöpfter als am Abend zuvor. Ihr Körper wirkt wie gelähmt, der Kopf ist benebelt, das Licht blendet, die Geräusche schmerzen. Jede Bewegung wird zum Kraftakt. Sie haben nicht schlecht geschlafen, Sie haben schlicht keine Energie – obwohl Sie eigentlich gesund aussehen.

Willkommen in der Welt von ME/CFS – einer Krankheit, die oft übersehen, häufig missverstanden und selten ernst genommen wird.


Was ist ME/CFS?


ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom. Es handelt sich um eine schwere, komplexe, neuroimmunologische Multisystemerkrankung mit teils dramatischen Auswirkungen auf das tägliche Leben. Allein in Deutschland sind schätzungsweise 250.000 Menschen betroffen.


Die Krankheit ist gekennzeichnet durch:


  • tiefgreifende körperliche und geistige Erschöpfung


  • Post-Exertional Malaise (PEM) – eine dramatische Verschlechterung nach minimaler Anstrengung


  • „Brain Fog“ – kognitive Einschränkungen


  • Schlafstörungen


  • autonome Dysfunktionen


  • Schmerzen und Infektanfälligkeit



Praxisbeispiel: Die Ärztin, die plötzlich Patientin wurde


Dr. Jana K., 38, Internistin in einer Klinik, kehrte nach einer Virusinfektion in den Dienst zurück – doch etwas stimmte nicht. Schon beim ersten Dienst spürte sie Herzrasen, kognitive Einbrüche und eine Lichtempfindlichkeit, die sie nie zuvor erlebt hatte. Schlaf brachte keine Erholung.


Nach einem Weiterbildungstag brach sie völlig zusammen. Sie lag drei Tage in völliger Dunkelheit, unfähig zu sprechen oder Geräusche zu ertragen. Erst nach einem Jahr voller Fehldiagnosen, Unverständnis und Rückzug wurde ME/CFS diagnostiziert.


Heute lebt sie bei ihren Eltern, ihre Approbation ruht. Ein Spaziergang im Garten ist ihr täglicher Höhepunkt.


„Ich habe mein altes Leben verloren. Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass ich mir das nicht einbilde.“


Historie: Von der „Modekrankheit“ zur neurologischen Realität


ME/CFS ist kein neues Phänomen. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben Ärzte ähnliche Symptome. In den 1980ern galt es als "Yuppie-Krankheit" – ein Missverständnis, das bis heute nachwirkt. Lange wurde ME/CFS psychologisiert, bagatellisiert oder ignoriert.


Heute ist die Erkrankung von der WHO als neurologisch klassifiziert (ICD-10: G93.3). Doch viele Betroffene erleben nach wie vor Ablehnung, Unwissen und strukturelle Hilflosigkeit im Gesundheitswesen.


Symptome – mehr als nur Müdigkeit


ME/CFS ist keine Erschöpfung, die sich mit Schlaf bessert. Die zentrale Symptomatik ist PEM – eine Verschlechterung nach Belastung, die verzögert einsetzt und tagelang anhalten kann.


Typische Symptome:


  • körperliche Schwäche, Muskelschmerzen


  • kognitive Störungen (Wortfindungsprobleme, Konzentrationslücken)


  • Schlafstörungen trotz Erschöpfung


  • Reizempfindlichkeit (Licht, Geräusche, Berührung)


  • Kreislaufprobleme, insbesondere beim Aufstehen



Praxisbeispiel: Der Schüler, der „zu faul“ war


Luca, 16, war sportlich, beliebt und leistungsstark – bis eine COVID-Infektion alles veränderte. Danach war er ständig erschöpft, konnte sich nicht mehr konzentrieren. Lehrer und Mitschüler hielten ihn für faul. Seine Noten rutschten ab. Nach Monaten ärztlicher Odyssee und elterlicher Hartnäckigkeit kam die Diagnose ME/CFS.

Heute wird Luca zu Hause beschult – 15 Minuten lernen, 2 Stunden ruhen. Fußball ist passé. Auch Freunde treffen überfordert ihn.


„Ich habe nicht aufgegeben – ich bin krank“, sagt Luca. „Aber viele glauben das nicht, weil man nichts sieht.“


Ursachen – was steckt dahinter?


Die genaue Ursache ist noch ungeklärt, aber die Forschung hat viele Puzzleteile identifiziert. ME/CFS tritt oft nach Infekten auf – EBV, Influenza, COVID-19 –, bei genetischer Veranlagung oder nach Stress/Immunbelastung.


Wissenschaftlich diskutiert werden:


  • Autoimmunreaktionen


  • chronische Neuroinflammation


  • gestörter Energiestoffwechsel (Mitochondrienfunktion)


  • Dysfunktion des autonomen Nervensystems


  • gestörte Blutverteilung und Hirndurchblutung


Neurowissenschaftliche Perspektive


Studien zeigen:


  • Neuroinflammation im Hirnstamm und Thalamus


  • reduzierte Durchblutung in kognitiven Hirnarealen


  • veränderte Aktivierung des Default Mode Network


  • gestörter Glukose-Stoffwechsel


  • autonome Dysregulation (z. B. bei POTS)


ME/CFS und Long COVID – eine neue Welle


Viele Long-COVID-Betroffene zeigen Symptome, die mit ME/CFS nahezu identisch sind. Forscher gehen davon aus, dass die Pandemie eine neue, große Patientengruppe hervorgebracht hat – mit ähnlichen Problemen: fehlender Versorgung, sozialem Rückzug, Stigmatisierung.


Vielleicht ist Long COVID der Katalysator, den ME/CFS lange gebraucht hat, um endlich ernst genommen zu werden.


Diagnose – ein Puzzle ohne Marker


ME/CFS ist bisher eine klinische Diagnose auf Basis von Kriterien wie den Kanadischen Konsenskriterien oder der IOM-Definition. Biomarker fehlen noch, viele Ärzte sind nicht geschult. Der Weg zur Diagnose dauert im Schnitt mehrere Jahre.


Wichtig: Ausschlussdiagnostik anderer Erkrankungen ist essenziell – ohne in die „Psychofalle“ zu tappen.


Behandlung – Hoffnung auf Stabilität


Es gibt keine Heilung, aber Strategien, um die Lebensqualität zu verbessern. Die wichtigste: Pacing – das gezielte Vermeiden von Überlastung.


Weitere Bausteine:


  • Schlaf- und Schmerztherapie


  • Kreislaufstabilisierung


  • Mikronährstofftherapie


  • psychologische Begleitung – nicht als „Ursachentherapie“, sondern als Stabilisierungshilfe


Die früher empfohlene „Graded Exercise Therapy“ (GET) gilt inzwischen als schädlich.


Praxisbeispiel: Der Entwickler mit dem Timer


Sven, 44, arbeitete als IT-Experte im Homeoffice. Nach einer Grippe kam er nicht mehr auf die Beine. Konzentration fiel schwer, Erschöpfung trat schon beim Duschen auf. Zunächst hielt er es für ein Burnout. Doch ein normaler Arbeitstag endete mit drei Tagen im Bett.


Heute lebt Sven mit einem Timer: 90 Minuten Bildschirmzeit am Tag – überwacht mit Pulsoximeter und Herzfrequenz-App. Ein normaler Einkauf? Undenkbar. Freunde? Zu anstrengend.


„Ich lebe jetzt in einer Welt mit unsichtbaren Barrieren. Und viele Menschen glauben, es sei nur Einbildung.“


Gesellschaftliche Dimension: Das unsichtbare Leiden


ME/CFS führt nicht nur zu körperlichen Einschränkungen, sondern auch zu einem massiven gesellschaftlichen Ausschluss: Keine Erwerbsarbeit, keine Sozialkontakte, keine Teilhabe.


Betroffene berichten von:


  • Ablehnung durch Ärzte


  • Verlust von Freundschaften


  • finanzieller Not


  • Isolation durch Reizempfindlichkeit


  • Misstrauen („Sie sehen doch gesund aus“)


Perspektiven: Forschung. Anerkennung. Empathie.


Was es braucht:


  1. Forschung – zu Ursachen, Biomarkern und Therapieansätzen


  2. Schulungen – für Mediziner, Gutachter, Sozialämter


  3. Versorgungszentren – mit interdisziplinärem Know-how


  4. Solidarität – in Gesellschaft, Medien und Politik


Hilfe für Betroffene – Adressen & Links


Wer an ME/CFS erkrankt ist, braucht Orientierung. Hier sind seriöse Anlaufstellen:

Selbsthilfe & Informationen


Ärzt:innen & Kliniken mit Expertise


  • Charité Berlin – Institut für Medizinische Immunologie (Post-COVID / ME/CFS-Ambulanz):https://cfc.charite.de


  • Uniklinik München – ME/CFS / Long COVID-Sprechstunde


  • Klinik für Neurologie Leipzig – Spezialambulanz für neuroimmunologische Erkrankungen


  • Spezialistenliste (durch Betroffene gepflegt):https://cfs-hilfe.de/aerzte


Fazit: Die unterschätzte Krise


ME/CFS ist kein psychisches Problem. Es ist eine neurologisch-immunologische Systemerkrankung mit massiven Folgen. Sie verdient Forschung, Aufmerksamkeit, Versorgung – und Respekt.


Denn wer im Liegen kämpft, braucht eine Gesellschaft, die nicht wegschaut.



 
 
 

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
bottom of page